Sächsische Akademie der Künste
Sächsische Akademie der Künste
Vortrag Prof. Günter Behnisch Chemnitz, 15.11.1998
Meine verehrten Damen,
geehrte Herren,
liebe Freunde,
ich bin 76 Jahre alt und beschäftige mich nunmehr 52 Jahre mit Architektur.
Man könnte meinen: jetzt reichts. Aber so ist's nicht.
Was interessiert mich heute an Architektur, was interessiert mich besonders? Als ich jung war, da war die Sache einfach, meine ich heute, da interessierte ich mich für das Technische und das Funktionale stärker. Aspekte, die man messen und beurteilen kann. Heute -im Alter -liegt mir mehr an den vielen und verzweigten Beziehungen von Architektur zur Realität hin und auch und besonders am Formalen. Heute meine ich, das Formale, das sei das speziell Architektonische an der Architektur, ihr eigentlicher Kern.
Im Formalen würde kommentiert die Art und Weise, wie wir leben und zurechtkommen mit unserer Welt -meine ich; im Formalen drücke sich das Geflecht der Beziehungen einer speziellen Situation zu den Bereichen unserer Wirklichkeit aus.
Das Formale ist labil. Im Rückblick sehen wir, daß das Formale von Architektur sich ändert, wahrscheinlich im Kontext mit den Bedingungen, unter denen Architektur entstand und abhängig von unseren Möglichkeiten, dieses eigenartige Verhältnis zwischen Realität und dem Formalen von Architektur zu erkennen, zu verarbeiten und zu kommentieren.
wie war das vor 50 Jahren? Wir schauen zurück.... ein anderer Blick ist das als unser Blick seinerzeit. Was dachten wir damals? Was denken wir heute? Was denken wir heute, was wir damals gedacht hätten? Unser Blick zurück ist gesiebt und sortiert durch unsere heutige Brille.
In den langen Jahren unserer Praxis (uns: das ist die sich fortwährend ändernde
Gruppe der Mitglieder unseres Büros) haben wir vieles gebaut, vieles und viel
unterschiedliches. Mehr noch haben wir geplant, ohne das Geplante dann ausführen
zu können.
Hier denke ich an unseren Wettbewerbsentwurf für eine Kongreßhalle
bei der Hannover Messe 1986.
Überhaupt: Diese nichtausgeführten Entwürfe -mehrere Hundert -meist Wettbewerbsarbeiten -wie bedauerlich, daß diese nur Papier blieben.
Z.B. das Rathaus in Mannheim, unser Entwurf aus dem Jahre 1961, mit dem die Stadtidee Mannheims dreidimensional ausgeformt wurde; nach wie vor "großartig" -wie ich meine.
Dann unser Entwurf für das Hochhaus der Landesgirokasse in Stuttgart, mit dem versucht wurde, die solchen Anlagen üblicherweise anhaftenden Probleme,
z.B. das Egozentrische derselben, das oft Krankhafte hoher Bauten zu vermeiden. Hier nun ein Versuch, ein soziales städtisches Gebilde zu schaffen, ein Gebäude, das auch nach außen hin Beziehungen aufnimmt, das freundlich grüßt.
--~
Bedauerlich, diese liegengebliebenen Perlen. Andererseits -nicht ausgeführte Entwürfe scheinen "in der Erinnerung" oft besonders stark, stärker als Arbeiten, die realisiert wurden. Nichtrealisiertes ist noch näher an der Idee, kühn, frisch, neu. Diese Ideen waren noch nicht dem Einfluß der Pragmatiker unterworfen, derjenigen, die das Frische, das Ungeglättete eines Entwurfes auch empfinden müssen als Vorwurf der eigenen Praxis gegenüber.
Tatsächlich, viele unserer Entwürfe blieben auf dem Papier. Wenn wir dann doch spektakuläre Arbeiten ausführten, ausführen konnten oder ausführen mußten -oft weiß man nicht, was besser wäre -dann war es nicht leicht, das Offene, Frische der Wettbewerbsarbeit zu verteidigen, zu erhalten, herüberzuretten in den Neubau; besonders in Fällen, in denen die Arbeit sich lange hinzog.
Wenn ich zurückdenke: Am Plenarsaalbereich des Deutschen Bundestages in Bonn haben wir fast 20 Jahre gewerkelt. 1972 war der erste Wettbewerb. 1992 wurde der Neubau eingeweiht. Eine lange Zeit! Immer wieder mußten wir neu anfangen .
Immer wieder neigte die Lösung dazu, zu versacken.
Der Olympiapark dagegen entstand in etwas mehr als 4 Jahren. Der äußere Druck war sehr hoch, höher als beim Neubau des Plenarsaales in Bonn, der Druck bezüglich Genehmigungen, bezüglich technischer Probleme, der Termine, Finanzierung etc. Niemand aber hat sich angemaßt, das Architektonische des Olympiaparks anzuzweifeln oder verändern zu wollen.
Beiden Bauwerken sieht man ihre Entstehungsgeschichte an: der Olympiapark, eine schnelle, frische Arbeit. Der Plenarsaalbereich in Bonn: differenziert, vielfältig, wohltemperiert. Zwei Landmarken unseres Architekturlebens und - wie ich meine - auch zwei Landmarken der Geschichte der Bundesrepublik; des wesentlichen Teiles derselben. Der Olympiapark in München stand am Ende des materiellen Wiederaufbaues, zu Beginn der Zeit, in der die Bundesrepublik wieder gleichberechtigt aufgenommen worden war in die Gemeinschaft der Völker, und in einer Zeit beabsichtigter Öffnungen; denken wir an Willy Brandts: "wir wollen mehr Demokratie wagen". Das war zu dieser Zeit - eine offene, eine lebendige Zeit war das.
Und dann der Plenarsaal des Deutschen Bundestages, fertiggestellt quasi am Ende der Bonner Republik, ein Bauwerk, in dem experimentiert wurde mit der Art wie Architektur mit Eigenschaften zurechtkommen könne, die in dieser Zeit und in deren spezieller Situation als demokratisch verstanden wurden.
Zwei Arbeiten, die wir fast täglich sehen können: Den Plenarsaal in der Tagesschau, das Olympiastadion in der Sportschau. Nicht schlecht, finde ich.
Wie gesagt: Die Arbeit für Bonn, das war ein langer Weg -20 Jahre. Viel hatte sich verändert in dieser Zeit, mehrere Wahlen waren vorübergegangen einschließlich der daraus folgenden Wechsel der Parlamentarier und der Repräsentanten des Parlamentes.
Vieles hatte sich verändert in den zwei Jahrzehnten. Auch wir waren nach diesen
zwei Jahrzehnten nicht mehr die, die wir zu Beginn dieser Zeit waren. Allein das Alter: Als wir begannen war ich 50 Jahre alt, als wir abschlossen: 70 Jahre, wie stark verändert man sich in diesen 20 Jahren.
In dieser Situation kamen wir in Schwierigkeiten. wir mußten eine Formensprache entwickeln, in der diese Wechsel und diese Veränderungen, in der diese langen Zeiten architektonisch bewältigt werden konnten. Und diese Architektursprache mußte eine andere Sprache sein als die der klassischen Architekturen, bei denen man nichts hinzufügen und nichts wegnehmen durfte und deren Äußerers vorweg vereinbart und festgelegt wurde.
Das Hysolar-Institutsgebäude dagegen, das war eine s c h n e I I e Arbeit, in einer für diese Architektur günstigen Konstellation:
Die Aufgabe war innovativ und spektakulär, der Bauherr: das Universitätsbauamt wollte eine "attraktive" Architektur; nichts jedenfalls, was man überall finden könnte. Wir im Büro wollten probieren, wie das Formale von Architektur sich entwickeln könnte und letztlich sein könnte, wenn wir mit großen Fertigprodukten arbeiten würden, ohne diese zu verändern. Und die personelle Situation in unserem Büro war günstig für dieses Experiment. Gute Voraussetzungen für das Gelingen. Wie sich die Voraussetzungen ändern! Schnell oft und abrupt, dann wieder
langsam, sich über Jahre hinziehend.
Als ich 1947 -zwei Jahre nach Ende des letzten Krieges also -mit dem Studium in Stuttgart begann, erlebte ich den Rest der Lehre Paul Schmitthenners und Heinz Wetzels (Lehre vom handwerklichen Bauen mit natürlichen Materialien und von sorgsamen Umgang mit der Situation/der Landschaft/ dem Dorf/der Stadt/der Geschichte/der Traditionen etc. -so wie diese Lehre diese Lehrer sahen) und das im Streit mit der Lehre der Moderne, diese vertreten durch Richard Döcker, der an der Weißenhofsiedlung beteiligt gewesen war (Architektur mit künstlichen Materialien und industriellen Techniken, derjenigen Architekten, die sich von der Natur lösten) .
Die Erstgenannten hatten im Dritten Reich reüssiert, dem letzteren ging es in den 12 Jahren weniger gut. Das traditionelle, heimatgebundene Bauen rutschte im 3 . Reich ins "Völkische". Und die oder das "Moderne" wurde seinerzeit als kulturbolschewistisch, international, antivölkisch bezeichnet, in jener Zeit diffamierende Etiketten, die den, dem sie zugewiesen wurden, gefährdeten.
Also: In der Zeit nach dem Kriege bot mir ein Architekt an, Lehmhäuser zu entwickeln, die wir dann in großer Zahl realisieren wollten. Nicht etwa aus Gründen der Ökologie -so würden wir das heute sehen. Nein, seinerzeit konnten wir uns nicht vorstellen, daß wir in absehbarer Zeit unser Land in der heute als normal gesehenen Art und Weise hätten bebauen können. Es gab ja nur wenige bewohnbare Häuser in den großen Städten. Und die, die es noch gab, waren verbraucht und hätten renoviert werden müssen.
Aus den Lehmhäusern wurde dann nichts, glücklicherweise . Die Umstände änderten sich sehr schnell. Der Kommentar im Formalen wäre seinerzeit auch schwierig gewesen, vielleicht, daß zum Lehmbau nichts oder nur wenig zu sagen gewesen wäre, vielleicht zaghafte Versuche, das damals gerade noch Mögliche, was wenig genug war, etwas zu schmücken, vielleicht der Versuch, die vorübergehende Notsituation nicht den Notwendigkeiten alleine zu überlassen .
Wie dem auch gewesen wäre: Diese extrem magere Zeit war bald vorüber.
1952 -als wir mit dem eigenen Büro begannen zu bauen -versuchten wir, an das
anzuknüpfen, was wir in Stuttgart an der Technischen Hochschule gesehen und gelernt hatten.
Bauten entstanden, wie die Vogelsangschule an einem westlichen Hang des Stuttgarter Talkessels und die Sommerrainschule auf einem im Osten der Stadt liegenden Hange. Das waren Bauten in der Übergangszeit vom handwerklichen Bauen zum industriellen Bauen, geprägt noch von bekannten Erscheinungsformen, offen, nicht verkrampft. So schien uns das jedenfalls. Andere mögen das anders gesehen haben. Bald jedoch -zeitlich sogar parallel -wurde uns bewußt, daß andere Baumethoden anstanden, rationellere Methoden und daß Architektur im Formalen sich vorbereitete auf diese anderen Methoden und daß Architektur dann anders wäre und anders aussähe als bis dahin.
In dieser Situation entstand das Gebäude des Hohenstaufen-Gymnasiums in Göppingen, im Formalen eigentlich schon vorbereitet für eine Architektur, deren Elemente industriell produziert werden sollten und dafür typisiert werden müßten.
Ich vermute heute, wir meinten seinerzeit, das ingenieurmäßig Exakte, das industriell gefertigte Abstrakte, das würde unserer Zeit mehr entsprechen. Ich kann die Gründe für diesen Wechsel nicht mehr rekonstruieren. Ich vermute, noch mehr und anderes müßte mitgespielt haben.
Ich erinnere mich. Wir waren auch verquickt! Wir forderten vom Handwerker, seine Produkte sollten so exakt sein wie die industriell gefertigten Produkte. Das Weniger-Exakte, dafür aber Individuellere der Handwerksproduktion erkannten/oder schätzten wir zu jener Zeit offensichtlich weniger als das Exakte und Unpersönliche der Produkte der industriellen Produktion. Offensichtlich haben auch wir uns vorbereitet für industrielle Produktionsmethoden, man könnte das auch schärfer beurteilen und extremer darstellen.
Heute sehen Wir die Situation anders, zumindest differenzierter.
Heute beobachten wir die Veränderungen mit Mißtrauen, jedenfalls mit Vorsicht, wenn wir die Prozesse selbst auch nicht ändern oder nur beeinflussen können. Stark wirken auf unsere Architektur heute die schon seinerzeit sich in den Vordergrund drängenden Kräfte.
Aber heute reagieren wir anders als vor drei oder vier Jahrzehnten. Heute neigen wir uns wieder dem Vielfältigen zu, dem Differenzierten, auch dem weniger
Vollkommenen.
Die Epoche unserer Pseudo-Klassik dauerte nicht lange.
Heute meinen wir zu wissen, daß die "Volkommenheit" der technischen Architektur nur vorgetäuscht war, daß sie nur einen relativ schmalen Sektor des Ganzen betraf.
Immerhin, seinerzeit entstanden vom genannten Ansatz her letztlich große Mengen neuer Gebäude in Deutschland, in Europa, überall. Und uns gelangen einige Landmarken, Gebäude, die auch heute noch bemerkenswert sind.
Z.B. die Anlagen der Fachhochschulen in Ulm und in Aalen, der Gymnasiumsbau in Furtwangen, u.a.m.
Probleme, die wir heute in diesen Bauwerken sehen, konnten wir seinerzeit
nicht erkennen. Heute sehen wir: Die Wege, die zur Ordnung des Formalen führten, hatten wir einfach übernommen vom alten Bauen. Nach wie vor entwickelten wir die Gestalt der Bauten so, als sei diese gebunden an Material und Konstruktion; insgesamt und in ihren Teilen. Gebunden früher an Holz, Stein und Handarbeit; nun gebunden an Stahlbeton, Glas, Walzstahl, Kunststoff und Industriearbeit. Wobei - gegenüber dem handwerklichen Bauen der ästhetische Wert sich schon ändert -
tatsächlich -wie wir aber erst später merkten - seinerzeit für uns fast unbemerkt, eher "unter der Hand". Es mag auch sein, daß uns dieses Neue, Unpersönliche, das Sachliche, das Rationale, das Rationelle gefiel. In dieser Zeit wurden Begriffe wie
"wissenschaftlich ", “objektiv", "produktionsgerecht" ... besonders geschätzt, auch von Architekten.
Konnten wir im handwerklichen Bauen früher noch erkennen, daß wir uns den Konditionen der Natur, der Schöpfung fügten mit unseren Häusern, Dörfern und Städten, sehen wir in den industriell gefertigten Bauten heute neben manch anderem auch die Kraft und Macht von Apparaten.
Die Welt des Menschen nun: im Extremfall verwaltet, technoid, vergötzt. So sehen wir das heute vielleicht, andere mögen das anders sehen. Seinerzeit konnten wir das noch nicht erkennen und wir reagierten -wenn überhaupt -höchstens intuitiv darauf.
Architektur insgesamt und in ihren Teilen, in ihrem Äußeren, ihrem Schein, im Materiellen etc. ist abhängig vom Kontext, in dem Architektur entsteht, abhängig vom Auftraggeber, von den Aufgaben, vom Stand der Wissenschaft, von der Technik, vom Bewußtsein, von der wirtschaftlichen Situation, von den Traditionen, von der
örtlichen Situation, von den Idealen, von Hoffnungen und Befürchtungen etc. Und
sicher noch von vielem anderen mehr.
Eine Leistung des Architekten mag darin gesehen werden, daß und wie er all das verarbeitet, was und wie er wertet, wie er dieses Gemenge ausformt und baukünstlerisch überhöht .
Die Art und Weise, wie wir etwas tun, gibt Auskunft über die Art und Weise, wie wir mit uns und unserer Welt umgehen.
Früher konnten wir uns noch zurückziehen auf das Argument, daß beim handwerklichen Bauen der Rahmen eng und die Zwänge groß waren. Und wir meinten, unsere Verantwortung für das, was in diesem engen Rahmen entstand, wäre damit gering gewesen.
Schon vor drei Generationen konnte man das anzweifeln. Heute aber, beim heutigen Bauen gilt das nicht mehr.
Heute haben sich die Bindungen zwischen den Teilen gelöst, die Bindung der Aspekte, der Momente, der Teile etc.; z.B. die Bindung des Formalen an Material und Technik oder an Funktionen; das waren doch nur die Krücken, die dem Architekten weiterhelfen sollten, die auch tatsächlich weiterhalfen, nachdem er den Glauben an die die Architektur prägende "Höhere Welt" verloren hatte. Das muß seinerzeit eine andere, in diesem Bereich einfachere Welt gewesen sein, in der die Verantwortung für das speziell Architektonische nicht vorwiegend beim Architekten war.
Heute aber ist es das. Heute müssen wir das Formale selbst gestalten und selbst verantworten. Jeder Teil, jeder Aspekt, jeder Moment, jede Form, alles ist tendenziell autark heute, frei von seiner früheren Bindung, kann so optimiert werden, im Rahmen der eigenen Gesetze und stünde auch uns zur Verfügung, wenn wir das nur wahrnehmen wollten.
Form muß nicht mehr der Funktion folgen. Form folgt auch nicht mehr der Konstruktion oder dem Material; jedenfalls müßte sie nicht folgen. Form bildet auch nicht mehr eine höhere Welt ab. Form ist frei heute.
Heute scheint mir das klar; war es aber nicht seinerzeit -als ich mit Architektur begann.
Viele Bilder von der Ordnung der Architektur hat es schon gegeben. Und es kann sein, daß unser Bild heute von diesem Komplex, in dem die nicht mehr
gebundenen Elemente von Architektur nun sich entwickeln können, frei und ihren
eigenen Gesetzen entsprechend..... , daß dieses Bild wieder nur eine Krücke ist, daß wir auch damit die eigene "Rolle" in diesem Spiel entlasten wollen, daß ein weiterer Schritt anstehen wird, ein Schritt, nach dem alles auf uns fällt, ein Schritt, nach dem wir alles selbst machen und entscheiden müssen, nach dem wir uns nicht mehr auf höhere Gesetze oder auch nur objektive Gesetze stützen können .
Ich meine nicht, die Sache würde dann leichter für uns oder besser. Im Gegenteil.
Möglicherweise aber ist diese Entwicklung unvermeidlich, diese Veränderung unseres Bildes.
Wir werden nicht Ruhe geben, wir werden immer weiter bohren, und unsere Zeit neigt nunmal auch zum Abstrahieren und Isolieren der Teile. Diese werden so immer kleiner und verlieren ihren vermuteten früheren Zusammenhang. Und damit werden sie manipulierbar.
Es geschieht oft und es geschah oft, daß Techniken oder Materialien oder Funktionen sich änderten, daß diese vorauseilten und sich vom Formalen lösten. Das Formale blieb dann zurück. Und in diesem zurückgelassenen Formalen wurde und wird dann das Alte weitergeschleppt, das Gewesene leuchtet nochmals auf darin. So erinnert das Formale nochmals an die "gute alte Zeit".
Denken wir an die Kaufhäuser und Bahnhöfe der Jahrhundertwende. Deren Inneres war technisch neu, deren Schauseiten aber waren geformt mittels alter, eklektizistischer, architektonischer Apparate.
Mancher neigt dazu, darüber zu lächeln, zu unrecht -wie ich meine.
So entwickelt sich Architektur -wie manch anderes auch. Wissenschaft, Technik und das Formale von Architektur marschieren nicht im Gleichschritt.
Auch wissen wir nicht, ob es ein Ziel gibt in dieser Entwicklung, ein Ende derselben, und -wenn es das gäbe -welches Ziel das sein könnte. Ich meine, es sei Max Ernst gewesen, der sich als Künstler verglich mit einem blinden Schwimmer. Dieses "Spiel" zwischen Formalem und Realität, das ist nicht ohne Sinn. Dadurch, daß das alte Formale noch beibehalten wird, während andere Aspekte des Werkes sich verändern, werden die oft abrupten Brüche z.B. in den Techniken und Funktionen überbrückt im Schein. Die Brüche werden verschliffen. Wir haben Zeit, uns an das Neue zu gewöhnen.
Und dann wieder gab und gibt es Zeiten, in denen das Formale vorausläuft und das Technische und Funktionale nachhinkt. Dann löst sich das Formale von der materiellen Realität, wird gesteuert von Kräften, deren man sich vielleicht selbst nicht bewußt ist.
In der Regel geschieht das vor gesellschaftlichen Veränderungen, dann z.B. wenn wir eigentlich neue "Realitäten" nötig hätten, diese aber noch nicht zu realisieren sind -aus welchen Gründen auch immer.
So kann man die Barockarchitektur sehen auch -neben vielen anderen Zusammenhängen -im Zusammenhang mit der nachfolgenden bürgerlichen Revolution -und die Weiße Architektur der Moderne mit den sozialen Veränderungen zu Beginn dieses Jahrhunderts. Die Dinge und Aspekte und Momente haften nicht so fest aneinander -oder gar ineinander -wie wir das gerne sehen wollen . Sie sind eher elastisch verbunden miteinander, auch indirekt. Es waren unsere Bilder, die uns diesen festen Verbund suggerierten.
Nochmals: Ein wesentlicher Aspekt der Moderne ist, daß Teile, Aspekte und Momente des Ganzen eben nicht mehr komplex gebunden sind aneinander, daß sie frei sind. Das ist nichts, was wir beeinflussen könnten: Der Raum ist frei, die Konstruktion kann sich auf sich selbst besinnen etc.
Und auch das Formale ist frei. Auch der Aspekt Kunst hat sich gelöst von den Bindungen an die Zwecke und von anderen frühen Bindungen, ist autark geworden, fliegt der Realität davon. Man kann das so sehen, als wollte Kunst mit
unserer Realität nichts zu tun haben, als wollte Kunst unsere Realität fliehen, als wollte Kunst in einer eigenen Welt leben, in einer Kunstwelt eben. Und dafür gibt es sicher Gründe.
Ich muß hinweisen darauf : wir betreiben ein "ordentliches" Büro, d.h.: Techniken, Funktionen, Termine, Geld etc., all das muß stimmen. Spannend für uns aber ist die Sache mit dem Formalen.
Heute laufen die Experimente auch, vielleicht sogar vorwiegend im Formalen. Wir suchen danach, wie Architektur sich lösen könnte von Bindungen an die Realität und stehen vor dem Problem: was tun mit der dann manipulierbaren Architektur.
Arbeiten entstehen, die Akzente im Formalen haben, ohne dabei -das muß ich nochmals betonen -im Praktisch-Funktionalen Qualitäten einzubüßen. Im Gegenteil: Es hat sich gezeigt, daß formal Befreites auch anderes mitbefreit, also Freiräume schafft für Funktionen, für effiziente Konstruktionen u.v.a.m., auch für uns.
Zu nennen wäre hier wohl unsere Arbeit für
das Center of Performing Arts in Bristol,
das Gebäude der LVA in Lübeck,
das Gebäude des St . Benno Gymnasiums in Dresden,
der Tower am Flughafen in Nürnberg,
die Ergänzungen der Kuranlagen in Bad Elster,
und manch anderes mehr.
Nicht zuletzt unsere Arbeit für den Neubau der
Akademie der Künste Berlin/Brandenburg am Pariser
Platz in Berlin.
Schon anläßlich unserer Arbeit für die dann in Fertigteilen ausgeführten Anlagen der Fachhochschulen in Ulm und in Aalen in den 50er und 60er Jahren hatten wir das bis dahin als selbstverständlich angesehene Gesamtpaket Architektur aufgeknotet und davon kleinere Päckchen gemacht -aus praktischen Gründen.
Wir konnten so die Anlagen, die groß waren für uns seinerzeit, einfacher planen und bauen -Pakete, die jeweils eine Ebene der gesamten Anlage umfassen. Wir dachten uns Ebenen für Funktionen, für Tragwerke, für Räumlichkeiten, Haustechnik,
für Ausstattungen usf. Zuletzt hatten wir zusammen mit Georg Karl Pfahler noch eine ästhetische Ebene hinzugefügt.
Das Ganze war nicht schlecht geworden. Wir meinten, dieser Arbeitsansatz könne weiterhelfen; zumal wir entdeckt hatten, daß diese Ebenen wiederum in sich strukturiert waren und relativ leicht für sich geordnet und gehandhabt werden konnten.
Allerdings hatten wir noch eine alle Bereiche prägende geometrische Struktur beibehalten. Und wir meinten noch, wir sollten einheitlich wenig
verschiedene Materialien verwenden.
Wahrscheinlich schleppten wir von früher stammende Bilder über Architektur mit uns herum, bei der alles ununterscheidbar ineinander war. Immerhin begriffen wir, daß wir, wenn wir diese unterschiedlichen Strukturen übereinander legten und diese dann gegeneinander verschieben würden, was wir dort noch nicht getan hatten -, daß wir dann ein sehr filigranes und differenziertes Bild des Ganzen erhalten könnten. Also lösten wir uns auch noch von der alles deckenden Geometrie.
Und dann meinten wir -das mag 20 -30 Jahre her sein -nun sei es Zeit, auch das Paket Material noch aufzuschnüren, so daß letztlich jedes Ding so sein könnte, wie es von sich aus sein möchte; bezüglich seiner Materialien, in seiner Form, in seiner erforderlichen Leistungsfähigkeit, an seinem Platz, bezüglich seiner Energien, formal, technisch, farblich usf.
Das bedurfte einiger Übungen. Immerhin, bei den Bauten des Schulzentrums in Lorch (1973 -1989) erfuhren wir die Stärken dieses Ansatzes, auch dann beim Gebäude für die Bibliothek der Katholischen Universität in Eichstätt 1987.
Tatsächlich wurden die Dinge nun freier, sie versuchten nicht mehr, andere zu quälen, sie akzeptieren, daß sie nun Individuen waren, daß sie anders waren als die anderen und daß die anderen anders waren als sie selbst. Und das Ganze kam in ein freies räumliches Gleichgewicht. Harmonische Bauten entstanden in einer freien Ordnung. -So sehen wir das.
Nachdem wir die die Dinge egalisierenden materiellen und geometrischen Ordnungen (rechtwinklig und mit typisierten Maßen) überwunden hatten, bildeten sich beim Betrachten der sich überlagernden Strukturnetze Schwerpunkte, scheinbar ohne unser Zutun. Kraftzentren entstanden -größere und kleinere Energiepole, die ausstrahlten, die auch anzogen und andere auf Distanz hielten -scheinbar in freiem Gleichgewicht.
Die Elemente waren also nicht mehr Teile von geometrischen Rastern oder auch nur verbunden mit konstruktiven Ordnungen, Goldenem Schnitt, überkommenen architektonischen Ordnungen oder ähnlichem. Jetzt hatten die Dinge i h r e n Ort besetzt, strahlten ihre Energie aus, abgestimmt und ausgewogen mit den anderen Elementen.
Sie verstehen, das ist ein Bild, und mit diesem Bilde versuche ich, ein Stadium freier räumlicher Ordnungen von Architektur darzustellen, so wie ich diese gern sehen möchte.
Ein anderes, schon mehrfach gebrauchtes Bild: Werfen wir eine Hand voll Kieselsteine in ein zunächst ruhiges Wasser, so entstehen Einschläge, größere und kleinere. Sie strahlen ringförmig Energien aus, die sich letztlich treffen und durchdringen.
So -nicht in nur einer Ebene, sondern räumlich - kann man sich vielleicht eine freie Ordnung des Formalen vorstellen. Man könnte auch das Bild von Planetensystemen wählen oder andere Bilder. Es sind ja nur Bilder, die uns helfen sollen, die Welt der Architektur anders zu sehen, die uns helfen sollen, Voreingenommenheiten zu überwinden, Verklemmtes und Verkrustetes zu lösen, zu entkrampfen.
Nochmals: Das sind Bilder!
Es ist uns nicht gegeben, die Welt insgesamt zu verstehen, es sei denn, wir bewegten uns auf einer sehr hohen Ebene, z. B. im Religiösen.
Wir machen uns Bilder von unserer Welt, einfache Bilder, komplizierte Bilder, schwierige Bilder, scheinbar genaue, geschlossene oder offene Bilder etc. Diese Bilder sind unsere Welt und sie prägen unsere Architektur, sichtbar, erkennbar, verstehbar für diejenigen, die sehen, erkennen und verstehen wollen und können.
Übertragen auf das Plenarsaalgebäude in Bonn: Ein großer Einschlag, ein großes Kraftzentrum, eine Sonne wäre vielleicht in der Mitte des Plenarsaals, eines bei der großen Lichtquelle im Dach -dem Zenit zugewandt, ein anderes im Vorplatz, eines im Foyer, eines bei der großen Treppe, ein anderes beim hinteren Foyer, beim Rhein, bei den Bäumen des Rheinparks, bei den Kunstwerken usf. Große Pole, und um diese Pole herum scharen sich kleine Einschläge: Treppen, Geländer, Stühle, Tische usf.
Ein solches Bild,reduziert auf Orte und Energien (architektonische Energien, formale, funktionale Energien usf.), ein solches Bild läßt viele Möglichkeiten für die Entwicklung von Architektur zu. Man kann sich lösen damit von der Vorstellung, es müßte ein Haus entstehen mit vierWänden, einem Dach, mit Dachrinne, Kamin und Blitzableiter.
Manches bisher Gewohnte wurde so "weggedacht". Z.B. die überkommenen und gewohnten Grenzen von Gebäuden, also Wände, Fenster, Dach usf. Wenn es diese dann nicht mehr gibt, stehen Treppen neben Bäumen, Wege neben Fluren, Fluß neben Plenarbereich usf. -quasi gleichberechtigt nebeneinander. Eine neue Rheinlandschaft entstand so aus alten und neuen Elementen, Elementen eines Parkes und solchen, die üblicherweise zu Häusern gehören, eine große offene Landschaft, die Rheinaue. Und in dieser Landschaft -nicht in einem geschlossenen Hause -in dieser offenen Rheinaue tagte dann der Deutsche Bundestag. Nochmals: Es handelt sich um Bilder, und solche Bilder sind Krücken für uns. Gehhilfen. Das müssen wir verstehen.
Uns hats geholfen und uns hats gefallen.
Manches kommt noch dazu: Die verschiedenen Elemente des Systems können aus verschiedenen Zeiten stammen. Sie können von verschiedenen Mitarbeitern kommen. Sie können unterschiedlich gewichtet sein und sich auf Unterschiedliches beziehen.
Wir fanden, das alles sollte diese Architektur leisten: Sie sollte einen bestimmten Punkt/Ort markieren in allen Bereichen. Andererseits sollte sie so offen sein, daß jeder seine Welt wiedererkennen könnte in ihr -mindestens Bereiche oder Teile derselben.
Eine extrem offene Ordnung, eine Ordnung, die sich im Formalen widerspiegelt. Ein großes vieldimensionales Geflecht von Beziehungen. Hervorgerufen durch und notwendig geworden für ein Bauwerk, dessen Werden 20 Jahre dauerte und dem -so war unsere Auffassung -besondere Bedeutung zukam.
Der verstorbene, von uns verehrte Julius Posener meinte, als er das von uns geplante Postmuseum in Frankfurt besuchte: "Mein Gott, so viele schöne Details! Bei uns in Berlin gibt es das nicht!"
Ich möchte jetzt nicht über Berlin sprechen, obwohl auch das ein interessantes Thema wäre. Die vielen schönen Details, die Julius Posener gesehen hat -sehen wollte? Tatsächlich wohl mehr und tatsächlich sorgfältigere Einzelheiten, als er gewohnt gewesen sein mag. Wir hatten doch sorgfältiger gearbeitet und auch das Kleine bedacht, auch das, was anders war als das meiste.
Julius Posener war wohl auch strapaziert von den seinerzeit in Berlin üblichen Investoren-Generalunternehmer-Projekten, Bauten, die vor allem groß sind und denen man Sorge ansieht, im Bereich des Juristischen nicht angreifbar zu sein.
So verständlich diese Sorgen sein mögen, von der Position des Investors her ...
Was soll unter dieser Überschrift in diesem Kapitel sonst noch stehen?
Architektur beschäftigt sich mit vielem -nicht nur mit den Sorgen des Investors. Sie lebt in materiellen Zusammenhängen und in nichtmateriellen. Sie weist hin auf vieles -ob das beabsichtigt war, das ist eine andere Sache -sie kompensiert, ergänzt, erhebt, tröstet, ruft auf, zeigt sich in Schönheit -was etwas anders sein kann als das, was man so allgemein "schön" nennt.
Architektur ist vielfältig verflochten, auch mit den von Julius Posener gesehenen schönen Details.
Allerdings, man kann diese vielfältigen Beziehungen auch überdecken, z.B. mit den den Generalunternehmer und/oder Investor drückenden Sorgen. Oder -und so hatten wir es getan -Sorgen und Probleme dieser Art in die Schranken verweisen und Raum schaffen für vielfältige andere Beziehungen, vielleicht sogar diese ermuntern. Die Betrachter können dann diejenigen Fäden aufnehmen und auch weiterspinnen, die sie aufnehmen möchten und können.
Julius Posener,bei seinem Besuch im Postmuseum neunzig Jahre alt -als er vier Jahre später den von uns geplanten Plenarsaal besuchte, sagte er, als man ihn zum Aufbruch drängte: "Laßt mich doch, Kinder, ich komme wahrscheinlich nie mehr hierher."
Julius Posener, dessen Architekturjugend zur Zeit der sogenannten weißen Moderne war -also in den 20-er und Anfang der 30-er Jahre unseres Jahrhunderts, der vor seiner Emigration in Berlin lebte und dort auch die Arbeiten Erich Mendelsohns kennenlernte -ich meine, Posener hätte auch gearbeitet bei Mendelsohn -Sie haben in Chemnitz das von Mendelsohn entworfene Kaufhaus Schocken -Julius Posener nahm offensichtlich beim Besuch des Postmuseums die von uns in diesem Bau angelegten -wahrscheinlich eher unbewußt angelegten -Hinweise auf die Architektur der Moderne auf -und diese führten ihn in seine Jugend, er tauchte ein in diese vergangene Zeit, schön für ihn, schmerzlich, interessant, in die Zeit, in der er auch die welt der Architektur kennenlernte. All das tauchte wohl auf in ihm. Seine Jugendzeit in Berlin vor 1933. So daß er schließlich sagte: "Ihr habt nun das getan, was die Modernen seinerzeit gerne getan hätten, aber nicht tun konnten, da ihnen das Material dafür fehlte." Das muß man nicht nur als "materiell" verstehen.
Und als wir später im Plenarsaal in Bonn waren -Julius Posener war Mitte neunzig -sagte er, als man ihn zum Aufbruch drängte -er mußte nach Aachen zu einem Vortrag: Laßt mich doch Ich komme doch wohl nie wieder hierher.
Julius Posener war wieder eingetaucht in seine Jugendzeit -wohl wie sie hätte sein sollen, wie er sie sich wünschte im Rückblick und wollte nicht so schnell zurück in sein Alter.
Das kann Architektur bewirken - und vieles mehr noch .
Das macht uns zufrieden - trotz all der Probleme beim Entstehen von Architektur.
Danke.