Das "Freie" oder auch das "Befreiende'' in oder durch Architektur

Das "Freie" oder auch das "Befreiende'' in oder durch Architektur

Prof Günter Behnisch – BauKo III Vorlesung: 19.4.1978

Kunst und Architektur sind nicht in allen Zeiten gleich, füllen nicht einen einmal für immer abgegrenzten Bereich. Ein heute gebauter Tempel wäre banal - so erhaben solcher in seiner Zeit gewesen sein mag. Ebenso der Versuch, heute Bilder zu malen wie vielleicht Raffael, Rembrandt - und um in die neuere Zeit zu gehen - Renoir oder Miro dies taten.

In Kunst spiegeln sich die Kräfte wider, die bei ihrem Entstehen wirksam waren. Ändern sich diese Kräfte, so muss einfach das sichtbare Phänomen dieser Kräftekonstellationsich ebenfalls ändern.

Schon von hieraus können wir erkennen, dass Mies v.d.Rohe, Le Corbusier, Frank Lloyd Wright - um die 3 Großen der vorangegangenen Generation zu nennen – selbstverständlich auch zeit-, orts-, kurzum situationsgebunden waren in ihrer Arbeit, und dass es "nicht richtig wäre", wollte man versuchen, ein Haus wie M.v.d.R. zum Beispiel zu bauen.

Kunst und Architektur entstehen in ihrer Zeit und unter den zahlreichen vielfältigen Bedingungen ihrer Zeit. Und so kann zeitgemäße Architektur nicht entstehen - in Unkenntnis der Zeit - der technischen, gesellschaftlichen und sonstigen Probleme, des "Materials'' für Architektur in der Zeit.

Und so kann Architektur auch nicht beurteilt werden ohne Kenntnis der geschichtlichen Situation, in der sie entstanden ist, und auch nicht nur von einem Aspekt her.

Wenn diese Gedanken schlüssig sind, so müssen wir folgern, dass Architektur immer neu sein muss, dass geradezu die ihr innewohnenden innovativen Teile unverzichtbar Teil einer zeitgemäßen Architektur sind, dass Architektur, die nicht entwickelt wird, die ausgetretenen oder auch nur bewährten Rahmen folgt, ohne wenigstens ein Fünkchen Neues zu enthalten, zu behandeln, dass diese Architektur eigentlich nicht Architektur sein kann.

Architektur muss also immer anders sein.

Trotz dieser und anderer Schwierigkeiten muss es - so meine ich - eine übergeordnete Aufgabe, einen Sinn geben, ohne den Kunst und Architektur nicht sein können, ohne den Kunst wahrscheinlich Handwerk und Architektur wohl Technik wären, ein Charakteristikum, eine Aufgabe, das bzw. die zwar mit einem übergeordneten Prinzip erfasst werden kann, jedoch in den unterschiedlichen Zeiten unter unterschiedlichen Bedingungen mit unterschiedlichen Mitteln angegangen werden musste. Und nun meine ich, dass diese eine andauernde Aufgabe darin gesehen werden sollte, dass Kunst und Architektur frei machen, befreien müssen.

Dass diese übergeordnete Aufgabe zu allen Zeiten darin liegt, dass wir mit unserer Arbeit Menschen und Dinge lösen müssen von Zwängen, die ihnen in der erfahrbaren Wirklichkeit angetan werden - angetan werden durch Kräfte, die sich dort immer wieder aufbauen und die Mensch und Dinge daran hindern, sich zu finden.

Und diese Aufgabe müssen wir immer wieder neu angehen; in jeder Zeit, in jeder Situation neu, das Ganze und seine Teile und Aspekte betreffend, müssen wir diese Aufgabe lösen; aus den speziellen, realen Problemen heraus.

Als Beispiel sei genannt: unsere zunächst unproblematisch erscheinende Aufgabe, geschützten Raum für Menschen zu schaffen. So einfach das zunächst erscheint, oder sich anhört, sie wird problematisch, sobald die Aufgabe real angegangen wird, und das heute anders als gestern, morgen oder vorgestern.

Bei den frühen Kuppelräumen mussten für diese Aufgabe riesige Steinmassen aufgetürmt werden, die dann wohl Schutz boten, jedoch auch Nacht und Bedrängnis herstellten, Zwänge, Einschränkungen, die real nicht aufzulösen waren, ebenso wenig wie die Bedrückungen, die dadurch entstanden, dass Menschen unter andere uneingeschränkt oder auch nur zum Teil unterstellt waren.

Hier befreite (erlöste) das - heute als Kunstwerk bezeichnete - in Kuppeln angebrachte Bild des Gottessohnes Mensch, Ding und Raum. Vor Gott wurden alle Menschen gleich. Das Reich Gottes entfaltete sich in der Enge des Raumes, weitete diesen, löste ihn auf, erlöste ihn von seinen bedrückenden Bindungen, und das Gold der Mosaiken widerspiegelte vieltausendfach das Licht der Kerzen und zauberte Helle in die Finsternis.

Wie schön war das damals - wie frei, wie erleichternd, wie befreiend von allen Übeln.

Aber - das sind nicht mehr unsere Probleme! Helligkeit haben wir in Hülle und Fülle; und große Räume können wir leicht und durchsichtig überspannen; und der Mensch ist nicht mehr im gleichen Maße anderen unterstellt.

So wäre es wohl unredlich, würden wir uns heute der künstlerischen Mittel früherer Zeiten bedienen, oder vielleicht sogar - wie ja heute wieder in Mode - die Probleme und damit Zwänge früherer Zeiten willkürlich aufbauen, - z. B. indem wir mit schweren Massen bauen, oder sie vortäuschen um dann mit dem Schein der Berechtigung die dazu gehörenden architektonischen Mittel vergangener Epochen - z. B. der Gotik, der Renaissance oder des Klassizismus - anwenden zu können.

Nein, so geht das nicht. Wir müssen schon unsere Probleme, unsere Realität bearbeiten, und wahrlich, da gibt es zahlreiche und schwere Bedrückungen, denen wir in unserer Zeit ausgesetzt sind - und die wir aufzulösen haben; was zugegebenermaßen schwierig ist als das "im Schein der Kunst Überwinden" der Bedrückungen die uns heute nicht mehr drücken. Auch die Mittel für unsere Bemühungen müssen von heute sein, zunächst müssen wir die realen, materiellen Möglichkeiten unserer Zeit ausschöpfen, diese erweitern, wenn die materiellen Möglichkeiten eingeschränkt, ungenügend sein sollen.

Erst dann, wenn hier ausgereizt wäre, dürfen wir zaubern oder idealisieren. Erst dann dürften wir uns dieser immateriellen Mittel bedienen - so wie die es tun mussten, deren Situation stärker eingeschränkt war als die unsere und - in deren Zeit die Möglichkeit zur realen Befreiung von diesen Bedrückungen und Einschränkungen nicht gegeben waren.

Aber dafür sehe ich kaum noch Raum. Was sollte das schon sein!

Die Flucht in die Bilder der Geschichte, deren Probleme wir heute besser als die unsrigen zu kennen und beherrschen glauben - wobei wir übersehen, dass wir dass die bedrückende Situation der damals Untergeordneten kaum noch erkennen - diese Flucht in die Bilder der Geschichte würde doch – so verständlich sie sein mag - bedeuten, dass wir verzichten auf Wesentliches von Architektur, sie damit eigentlich aufgeben. Wir würden den Teil unserer Aufgabe versäumen, der bewirken kann, dass unsere Bauten zu sich selbst kommen können, dass in unseren Bauten der Welt ein Bild dessen wiedergegeben wird, was unsere Realität ihr heute verweigert.

Die im Entstehen von Architektur angesiedelte Aufforderung, ja sogar Notwendigkeit, Bedrängungen der Zeit zu erkennen, um diese überwinden zu können und diese dann auch tatsächlich zu überwinden ist doch unerlässlich, unverzichtbar.

Verweigern wir diese Auseinandersetzung, so machen wir mit unserer Kraft, mit unserem Können die ohnehin Mächtigen mächtiger. Dann verweigern wir Mensch und Dingen die eigene Identität oder verfälschen diese.

Die auch für unser Sein erforderliche, in Architektur mögliche Identität der Dinge mit sich selbst können wir nicht ersetzen durch die Identität anderer - ohnehin versuchen die Mächte der Zeit ihre Vorstellungen allen Anderen und allem Anderen aufzupressen.
- Wir können sie auch nicht ersetzen durch die Willkür freigewählter Bilder, auch nicht durch Bilder aus der Vergangenheit.

Wenn wir auf konkrete Aufgaben das übertragen, können wir erkennen, was das bedeutet. So wäre beispielsweise unsere Bundeshauptstadt schlecht bedient mit Regierungsalleen, Blickschneisen, Gedenkplätzen und sonstigen Gestalten aus der Zeit des Werdens von Nationalstaaten oder von Staaten, in denen Macht konzentriert ist. Wir haben nicht den "Nationalstaat"; bei uns ist die Einheit der Nation nicht in einem Staate hergestellt; und bei uns ist Macht vielfältig dezentralisiert, aufgeteilt, hebt sich auf, und lässt uns so Freiraum.

Dies ist eine Qualität, die uns ermöglicht, uns selbst in unserer Gesellschaft zu finden. Diese Qualität z.B. sollte in baulichen Gestalten eingehen. Das würde heißen: keine übergeordneten, dominierenden, zentral angesetzten Ordnungssysteme, seien sie formaler, organisatorischer, geometrischer oder sonstiger Art.

Mit dem Ziele, den nachfolgenden Gestalt-Elementen das Recht der Eigenständigkeit, das Recht auf die eigene Individualität in Gestaltungsform und vor allem Funktion einzuräumen.

Unsere Möglichkeiten liegen und unseren Auftrag für Architektur finden wir in unserer Zeit. Die Techniken unserer Zeit bieten uns die Realisierungsmittel. Die Techniken früherer Zeiten sind - soweit sie überholt durch neue Techniken wurden, im Prinzip untauglich für die Architektur der Zeit.
Die Erscheinungsformen - auch solche wie Plastizität oder Ornament o.ä. sind nicht Voraussetzung.

Von sich aus ist Architektur weder groß noch klein, weder umfassend noch beschränkt, weder Stein noch Stahl. Architektur kann plastisch, massiv, farbig etc. sich entfalten, muss das aber nicht.
Jedoch:
vieles deutet darauf hin, dass es ein schlechtes Zeichen wäre, wenn Architektur willkürlich oder monumental, repräsentativ oder geometrisch starr würde. Auch die Gestaltelemente sind nicht im Vornherein festgelegt; weder vom Architekten noch im Namen einer höheren Macht.

Eigentlich: von sich aus – als Formenregel – gibt es moderne Architektur nicht; sollte es sie nicht geben.
"Als Spielregel'' ..... ja als Stil - nein, nicht im Formalen. Als Art und Weise des Verfahrens .... ja.

Das Mehr, das finden wir in uns - und in den Problemen unserer Zeit: z.B. in denen, die verursacht werden durch die Macht der Apparate, der Produktion, Administration und der vielen anderen Apparate, die wir geschaffen haben, um effizienter und abgesicherter wirken zu können. Diese Apparate verselbständigen sich, sie optimieren vorwiegend sich selbst und beschneiden von daher freien Raum. Diesen Kräften müssen wir uns stellen, in dieser Realität. Diese zuerst verhindern heute Identität außer der eigenen.

Diese drängen mit Macht zur Gestalt, diese zwingen ihre Identität anderen auf; manchmal in Worten, manchmal in Beton, manchmal in Stahl und Glas, Uniform, manchmal schwarz, manchmal weiß, rechthaberisch, intolerant, meistens hart und unpersönlich und nie: vielgestaltig, offen und heiter!

Sollte aber unsere Welt nicht gerade sein: vielfältig, vielgestaltig, offen ..... ? In der Welt der Architektur kann heute kein Raum sein für Willkür, für Macht an sich, für das "Recht des Stärkeren", für Kollossallösungen oder Kollossalordnungen ... Der Eine, der alles klärt, der für uns entscheidet, der weiß, was uns fehlt und was uns zusteht, der gehört nicht zu unserer Zeit und nicht zu unserer Ordnung.

Nicht nur die Mächtigen, sollten in Architektur zu Wort kommen. Im Gegenteil! Entgegenstellen müssen wir uns diesen Mächtigen und so Raum sichern für schwächere Kräfte. Wir sollten das üben. Es ist nicht so schwierig, wie wir meinen könnten. Es mag zwar unsere Zuverlässigkeit im Auge der Mächtigen beeinträchtigen, gelingt uns dies, so können wir frei sein und wir setzen andere frei. Dann können wir beobachten das Sich-frei-Entfalten architektonischer Gestalten.

Und das ist heute schön.

Aber beleidigend ist der Ausdruck der zur architektonischen Gestalt gekommenen übermacht, der Herrschaft von Menschen über Menschen und - was eigentlich noch demütigender ist - der Ausdruck der Herrschaft, der Macht der Apparate über uns.

Hier dürfen wir uns nicht beugen. Unerlässlich ist es, dass wir für unsere Arbeit unser Material kennenlernen, dieses handhaben können. Unser Bemühen wird scheitern, wenn wir meinen Architektur läge in uns. Der Anlass für Architektur liegt außerhalb unserer selbst. Dieser Ansatz erlaubt es uns, uns selbst nicht in dem Mittelpunkt unserer Arbeit zu sehen.

Im Rahmen unserer Tätigkeit hier im Fache Baukonstruktion III/Baugestaltung wollen wir Baustoffe, Konstruktionen und Techniken kennenlernen in ihrer Eigengesetzlichkeit, in ihrer Individualität und wollen diese messen an unterschiedlichen Aufgaben mit dem Ziele Funktion, Technik, Material zu einer sinnvollen, maßvollen Gestalt gelangen zu lassen. Und diesem Ziele wollen wir uns gemeinsam ein Jahr widmen.

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