Vortrag zum 100. Geburtstag von Hugo Häring
Vortrag zum 100. Geburtstag von Hugo Häring
Prof Günter Behnisch, Biberach, 20.05.1982
Sehr verehrte Damen und Herren,
liebe Freunde,
zum 100. Geburtstag Hugo Härings wird es uns nicht leicht uns - wie es uns aufgegeben wurde - vorwiegend mit der eigenen Zeit zu beschäftigen, mit der Basis und der Legitimation für die eigene Arbeit; besonders dann, wenn wir den, den Gedanken Hugo Härings zugrundeliegenden Anspruch vergleichen mit. der Praxis unseres Alltages.
Sicher, auch zu unserer Rechtfertigung kann uns manches einfallen: z.B., dass Hugo Häring den in seinen theoretischen Schriften formulierten Anspruch in der Praxis seines Alltags nur wenig "ausprobieren " konnte, dass von ihm selbst - leider – nur recht wenige Bauten existieren. Dieser Mangel an Praxis konnte möglicherweise dazu führen, dass Hugo Häring sich in seinen Gedanken doch etwas abgehoben haben könnte von dem, was wir Realität nennen.
Aber diese Überlegungen sollten nicht den starken Eindruck verdrängen, den wir erleben, wenn wir erkennen, dass es Hugo Häring - eben gerade in dieser etwas abgehobenen Position – offensichtlieh gelungen ist, sich seine Ideale, die seiner Jugend zu erhalten, diese Ideale sich nicht zerstören zu lassen, sie statt dessen zu pflegen, auszubauen, vielleicht auch um, gebunden an diese Ideale, mit Halt, Sinn und Ziel leben zu können. Und das scheint uns doch nicht wenig zu sein.
Es ist auch nicht so, dass Härings Gedanken fruchtlos versackt seien, dass sie ohne Einfluss auf Architekten geblieben und nicht ausprobiert worden wären.
Einmal hat er natürlich selbst gebaut; aber schließlich wurde auch die Philharmonie in Berlin gebaut, nicht von Hugo Häring natürlich, aber von seinem Wahl-Verwandten Hans Scharoun. Und in dieser "wesenhaften Gestalt", die doch sicher zu dem großartigsten gehört, was in unserer Zeit überhaupt gebaut wurde, erkennen wir auch Hugo Häring, seine Gedanken und Begriffe das Prinzip z.B. "von Innen nach Außen zu bauen" das Problem der "Gestaltfindung", der "Individualität", die eben etwas anders ist als das Resultat willkürlicher Gestaltungsprozesse, das Wissen, dass dem Menschen Vollkommenheit nicht gegeben ist, dass er dann diese auch nicht vortäuschen sollte, zumal sie ihm nur in relativ unbedeutenden Teilen des Ganzen gelingen könnte, die Oberzeugung, dass die Dinge i h r e Gestalt f i n d e n und nicht zugewiesen bekommen sollten, das Problem der "Leistungsform" die dann später zur "wesenhaften Gestalt" erweitert wurde, das Wissen darüber, dass Bauen zur Notwendigkeit führt, Entscheidungen treffen zu müssen, die selbstverständlich Bekenntnisse beinhalten usw.
Eine reiche Quelle, die uns wegführt von Macht, Gewalt und Willkür hin zu Toleranz, Freiheit und Individualität. Das ist ein weites Feld, das wir in 30 Minuten nicht pflügen können. Aber diese Zeit reicht, um einen Gedanken Hugo Härings weiter verfolgen und mit eigenen Überlegungen verknüpfen zu können (ohnehin stoßen Überlegungen in unserem Büro immer öfter auf Gedanken Scharouns und Hugo Härings).
(Ohne direkten Zusammenhang mit dem Worte werde ich Bilder von Bauten zeigen, die in unserem Büro geplant wurden, als Legitimation für das, was ich sage; ohne direkten Zusammenhang; aber auch nicht ohne Zusammenhang. Ich beginne mit einigen Bildern vom Olympiapark in München. Ich bitte Sie, diese Bilder auch als Referenz unserem neuen Architekturpreisträger gegenüber zu akzeptieren. Mit Frei Otto, Leonhard & Andrae - Jörg Schlaich - hatten wir seinerzeit die Überdachung für die Sportbauten geplant.)
Vielleicht angeregt durch Jean Gebser, vielleicht auch parallel zu ihm, entwickelte Häring die Vorstellung, dass zu jeder Kulturepoche eine geometrische Grundform gehören würde, daß diese geometrische Grundform allen Erscheinungen der jeweiligen Kulturepoche zu eigen wäre, den Strukturen der Gesellschaft und den "Produkten" ihrer Kultur - also auch der Architektur.
Den Ägyptern sei das Quadrat zu eigen gewesen, den Griechen das Rechteck, den Römern der Kreis und der Barockzeit die Ellipse. Und unserer Zeit sei das organische Prinzip zu eigen, wobei davor gewarnt werden müsste, das organische Prinzip mit pflanzlichen Formen gleichsetzen zu wollen.
Häring und Scharoun waren der Meinung, wir lebten heute in einer Übergangsphase. Wir planten damit für eine neue Gesellschaft, deren Strukturen uns noch nicht bekannt seien.
Dabei entsteht natürlich ein "Loch" zwischen dem Auftrag, für eine neue Gesellschaft planen zu sollen und der Erkenntnis, diese Gesellschaft nicht kennen zu können. Scharoun hat dieses Loch in der Praxis offensichtlich ohne Schwierigkeiten überwunden, vielleicht intuitiv, jedenfalls ohne dies verbal nachzuweisen.
Wir selbst versuchen, für unseren Alltag dieses Loch zu überbrücken. Wir meinen, dies könnte uns eher gelingen, wenn wir uns an näherliegenden Zielen orientieren würden, wenn wir kleinere Schritte uns vornehmen würden. Zunächst muss man sagen, dass Architektur von sich aus die Strukturen der Realität, die Strukturen der Gesellschaft annimmt. Darum müssen wir uns nicht bemühen. Die empirische Realität zwingt ihre Strukturen ohnehin allem auf. Tatsächlich sehen wir überall - und ich muss dies hier nicht ausdrücklich nachweisen - die Konditionen unserer Realität in Architektur durchscheinen.
Wenn wir jedoch das schwierige Unterfangen angehen wollen, mit Architektur der Struktur einer zukünftigen Gesellschaft entsprechen zu wollen, so müssen wir für den Bereich, in dem Architektur entsteht, im Vorfeld von Architektur also die Bedingungen herstellen, die einer zukünftigen Gesellschaft entsprechen würden. Vor Architektur also. Und das können wir nur, wenn wir uns klar werden darüber, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickeln könnte, entwickeln sollte.
Wir sehen natürlich sofort, dass das Ganze utopische Züge annimmt, dass wir Architektur machen dann für eine Gesellschaft, wie wir sie uns wünschen, die es nicht gibt, die es vielleicht sogar niemals geben wird. Aber wie könnten wir leben ohne Utopien, ohne den Glauben an eine Zukunft, in der Mängel unserer Realität aufgehoben sein könnten?!
Und im Zuge dieser Überlegungen kommen wir - hier sehr verkürzt dargestellt - zu der Frage, ob es denn nicht eine demokratische Architektur geben könnte?
Mancher Architekt behauptet, eine demokratische Architektur gäbe es nicht und könne es im Übrigen auch nicht geben, handele es sich doch beim 'Demokratischen" um einen politischen Begriff, einem Begriff der nicht architektonisch wäre.
Sicher, dieser Architekt entgeht damit der Auseinandersetzung mit der Frage, was er zu tun hat, um eine demokratische Architektur planen zu können, entzieht sich dieser Frage vielleicht sogar, und findet so vielleicht die Legitimation für s e i n e Architektur, für die Art und Weise wie e r seine Aufgaben bearbeitet.
Andere behaupten, es müsse eine demokratische Architektur geben, da ja die Art und Weise wie wir miteinander umgehen sich auch in Architektur ausdrücken müsse und dass, wenn wir demokratische Verfahren anwenden, diese dann auch in Architektur sich niederschlagen müssten.
Gibt es eine demokratische Architektur?
Gibt es eine christliche Architektur?
Gab es eine christliche Architektur?
Gab es eine Architektur des römischen Staates?
Gab es eine Architektur des Absolutismus und eine solche des zentralisierten, administrativen Staates nach der französischen Revolution?
Gab es eine Architektur der Gegenreformation?
Und eine solche des Beamtenstaates im 19. Jahrhundert ?
usw.
Ich meine, wir müssen diese Fragen positiv beantworten. Die römische Staatsarchitektur mit ihren Foren, Hallen, Tempeln, Brücken usw. mit ihrer geradezu administrativen Ordnung, mit der von den Griechen übernommenen symbolbeladenen Säulenarchitektur und den eher praktischen Bögen, Pfeilern, Tonnen und Kuppeln.
Die Architektur des Christentums im Mittelalter, ihre Kathedralen. Die Architektur der absoluten Herrscher in Versailles, z.B., der Stadtgrundriss von Karlsruhe, die Pracht der Marienverehrung im Barock der Gegenreformation, die kalte, absolute, unmenschliche, bürokratische Architektur nach der französischen Revolution, die wohl eher missverständlich Revolutionsarchitektur genannt wird, der kühle Klassizismus des Beamtenstaates
usw.
Sicher, diese Architekturen gab es.
Sie waren Ergebnis einer speziellen kulturellen, politischen, geschichtlichen, wirtschaftlichen usw. Situation.
Und wenn es diese Architekturen gab, dann muss es einfach auch die einem demokratisch funktionierenden Staats- und Gesellschaftswesen zugehörende Architektur geben.
Und wir müssen in der Architektur dieses Staats- und Gesellschaftswesens erkennen können, ob es wirklich demokratischen Tendenzen folgt, oder ob ihm nur der Schein äußerlich demokratisch sich darstellender Techniken zu eigen ist.
Wenn wir das Problem auf unsere Situation beziehen, so müssen
wir fragen:
- Ob eine demokratische Architektur bei uns entsteht und wenn nein - warum nicht?
und - was das Wesen einer solchen demokratischen Architektur wäre
und - wie sie rein äußerlich aussehen würde, wie wir diese Architektur als demokratisch erkennen könnten?
Zur 1. Frage :
Demokratische Architektur könnte entstehen, wenn es bei uns - im Vorfeld der Architektur - demokratisch zuginge. Aber daran hapert es ja.
Carlo Schmid wies darauf hin, dass es im Einzelnen des Alltags durchaus demokratisch zugehen kann, auch wenn Regierungen nicht auf demokratische Art und Weise zustande gekommen sind und wir wissen, dass bei uns, wo Regierungen und Parlamente demokratisch gewählt werden, Einzelheiten in der Regel nicht demokratisch erledigt werden, auch solche, die uns alle betreffen.
Ich denke hier an Konzerne, in denen von wenigen entschieden wird, nichts veröffentlicht wird und nichts begründet wird; Entscheidungen, deren Konsequenzen wir alle tragen müssen, fallen intern.
Raffinerien werden gebaut, selbstverständlich auf den besten Böden, in Betrieb genommen und wieder geschlossen; so, wie die Rentierlichkeit des Konzerns dies erfordert. Giftige Säuren und andere -Chemikalien werden in Flüsse und Meere geschüttet – verklappt nennt man das undeutlich - durchaus gegen den Willen der Bevölkerung und gegen deren Interessen. Verklappt, disloziert - wie diese Begriffe, die die Brutalität des Vorganges "zivilisieren" sollen, alle heißen:
Betriebswirtschaftlich mag das effizient sein, demokratisch ist es nicht.
Ich denke aber auch dar an, dass die von uns Gewählten ganze Bereiche an übernationale Organisationen abgetreten haben, an Organisationen, die Entscheidungen fällen, geheim halten, nicht begründen, die die Kriterien und Konsequenzen nicht veröffentlichen, obwohl es z. B. im Bereich der Rüstung um u n s e r Leben und gegebenenfalls um u n s e r e n Tod geht.
Vielleicht ist auch dieses Verfahren effizient, demokratisch ist es nicht. Sind bei uns nun Giftgase und Atomraketen gelagert, wo liegen diese?
Wo sind die Stellungen der Atomraketen des Westens, auf die die Atomraketen des potentiellen Feindes (auch so ein Begriff, der eher verschleiert als erhellt) gerichtet sind? Welche Landes- und Bevölkerungsteile werden sofort und welche erst im zweiten Schlag vernichtet?
Trifft uns das nicht ganz direkt?
Und ich denke an die Wohnungen der Einzelnen. Zu großen Teilen werden diese durch Behörden, Konzerne und Bauträger zugewiesen. Ich erinnere hier an das Märkische Viertel, an Neuperlach und an viele andere Beispiele. Auch das mag effizient sein, demokratisch ist auch das nicht. Ja, wie sollte bei solchen Voraussetzungen eine demokratische Architektur entstehen können?
2.:
Und wenn wir fragen, was das Wesen der demokratischen Architektur sei, dann müssen wir nach dem Wesen des "Demokratischen" fragen.
Und wieder hilft uns Carlo Schmid weiter: "die Technik der demokratischen Prozeduren hat ihren letzten Sinn darin, das Zusammenleben der Menschen so in Verfassung zu bringen, dass der Würde aller genüge getan wird und allen, auch Minderheiten, institutionell die Möglichkeit gegeben wird, ihr Vermögen in Freiheit entfalten zu können.“
Du liebes bisschen, schauen wir doch unsere Realität an, im sozialen Wohnungsbau z. B.: die Würde des Menschen!
Die Würde von Minderheiten! Wo gibt es denn das?
Welche Rolle hat die Würde des Menschen gespielt als das Märkische Viertel geplant wurde? Wie werden bei uns Minderheiten behandelt, direkt Betroffene z. B., vielleicht bei der Erweiterung eines Flughafens, bei dem Bau von Kernkraftwerken, von Aufbereitungsanlagen; dort, wo diese Minderheiten Wohnungen suchen z. B., wer denkt denn da tatsächlich an die Würde des Menschen? Bei solchen Bedingungen, wie soll denn da demokratische Architektur entstehen?
Und 3.:
Ob die durch demokratische Prozeduren entstandene Architektur ein besonderes Aussehen hat? Ob es vielleicht sogar einen demokratischen Stil gäbe?
Alternativ vielleicht zum Metabolismus, zum Rationalismus, Kubismus, Brutalismus usw. zu Architekturrichtungen, die sich schon rein äußerlich in Gruppen einordnen lassen. Wir ahnen es: ein solcher Versuch wird nicht weiterführen. Die Frage nach der demokratischen Architektur zielt nicht zuerst nach dem Äußeren von Architektur, nicht nach einem Formenkanon, das Demokratische liegt in den Prozeduren.
Wir müssen also fragen: haben wir uns demokratischer Prozeduren bedient.
Und weiter: haben wir unsere Arbeit orientiert an den Zielen, die unserem Verständnis, unseren Idealen von Demokratie heute entsprechen?
Und wieder Carlo Schmid. Er sagt: "Durch die Rezeption der Menschenrechte ist Demokratie neben einer politischen zu einer moralischen Kategorie geworden."
Also: es ist nicht damit getan, dass ein demokratisch zustande gekommenes Gremium einen Planungsauftrag erteilt.
Auch danach müssen wir uns
1. demokratischer Verfahren bedienen
und
2. die Chance, die diese demokratischen Prozeduren bieten, nützen, die dahin zielen, den Staat, unser Zusammenleben auch unsere Bauten, Architektur, die Wirklichkeit des Menschen zu vermenschlichen.
Und wenn wir davon ausgehen, dass Architektur die Kräfte widerspiegelt, die bei ihrem Entstehen wirksam zukünftigen sam waren, dann müssten solche demokratischen Prozeduren auch in Architektur, im Haus, in der Stadtanlage durchscheinen.
Und das tun sie auch.
Schauen wir auf städtebauliche Lösungen in der Schweiz, auf den sozialen Wohnungsbau in Holland und auf Universitätsbauten in England und vergleichen wir diese mit "unseren Objekten" in der Bundesrepublik.
Leicht können wir den Unterschied sehen und müssen nicht mehr danach fragen, wo das Demokratische eher zuhause ist und wo die Menschenrechte. selbstverständlicher sind.
Aber so arbeiten wir nicht. Wir arbeiten an anderem, an Architektur Ich habe den Eindruck als würden wir in der Mitte Europas immer besonders gebeutelt von den kurzlebigen Tendenzen in Architektur. Sicher, diese immer wieder neu auftauchenden Tendenzen werden begünstigt durch die Tatsache, dass z. B. auch in Architektur Probleme sichtbar gemacht werden - und damit "gebannt" werden, die in unserer Realität vernachlässigt worden sind.
So hat sicher der durch die analytische, strukturelle Architektur bedingte Verlust der materiellen und plastischen Quantität und Qualität mit dazu geführt, dass im Brutalismus das Materielle und Plastische ästhetisiert wurde. Der Verlust der Notwendigkeit, geometrische Gesetze beherrschen zu müssen und dafür zu lernen, führte sicher auch dazu, dass diese Gesetze nun in Architektur wiederentdeckt und materialisiert werden.
Und der Verlust der Obersicht über unsere komplexe, komplizierte und auch recht chaotische (d. h. aber auch vitale) Realität führte dazu, dass in Architektur vereinfachte Ordnungsvorstellungen in den Vordergrund gerückt werden (Achsen, einfache geometrische Körper und Bezüge usw.).
Diese Reihe lässt sich fortführen.
Ich meine, dass solche Architekturtendenzen einerseits verständlich sind, andererseits kurzlebig sein müssen. Sie verlieren ihre Legitimation in dem Moment, in dem das Problem sichtbar und aufgearbeitet wurde.
Übergeordnet ist aber auch all diesen Strömungen ein Gemeinsames zu eigen, der Wunsch nämlich, Architektur nicht ausschließlich den Konditionen der Realität auszuliefern, Architektur nicht einfach dem Einfluss der Macht zu überlassen, Architektur vielmehr an Anderes, an Höheres zu binden.
Auch unter diesem Gesichtspunkt können wir Architektur betrachten, ebenso, dass wir in ihr das jeweilige "Höhere" herauszulesen versuchen, das "Höhere" was bei ihrem Entstehen wirksam war, das was Architektur über das hinaus hebt, was ihr von der Realität ohnehin mitgegeben wird.
Und dann taucht vieles auf: Höheres und Hochgehobenes, auch all die Ersatzgötter: Technik, Geometrie, Organisation, Verwaltbarkeit, Variabilität, Plastizität usw., Aspekte, die durchaus ihren Platz im Ganzen haben, die auch ihre eigenen Gesetzte besitzen, die dann jedoch, wenn sie herausgestellt, übergeordnet werden, eine hervor gehobene Position erlangt, die ihnen doch kaum zusteht; Aspekte, die dann von dieser Position aus mit ihren Gesetzen alles andere unterordnen 'und damit schwächeren Kräften die Existenz verweigern, ein einseitiges Weltbild zeigen. (Was dann eben zu den genannten kurzlebigen Tendenzen führt.) Diese Ersatzgötter sind verführerisch eindeutig und "nachweisbar". Das übergeordnete Höhere, den Sinn unseres Bemühens ... können diese aber nicht ersetzen.
Wollen wir nach den stetigen Tendenzen in Architektur suchen, so müssen wir nach den stetigen übergeordneten Kräften, nach den Zielen, Idealen unserer Zeit schauen.
Nach Zielen, denen wir alle verpflichtet sind und die ohne unsere Hilfe in den Hintergrund geraten. Hierher gehört das Streben nach Freiheit und Würde für jeden (und auch für jedes) und unserer Hoffnung, uns diesem Ziele nähern zu können.
(Dabei ist Freiheit nicht mit der Möglichkeit, willkürlich agieren zu können, zu beschreiben, sondern mit der Möglichkeit, aus sich heraus leben und wirken zu Können. Und die Würde ist eng damit verbunden.) Und diese Würde ist allen und allem zuzubilligen.
Diese Tendenz ist durch die Geschichte zu verfolgen; und auch die immer wiederkehrenden Versuche, Freiheit und Würde zu verweigern - in anderem Interesse.
Freiheit und Würde für sich und für andere, für alle und für alles, auch für Dinge.
Diesen Tendenzen war zunächst auch die Moderne und das Neue Bauen verpflichtet. In diesem Sinne sind dann Mays Wohnsiedlungen in Frankfurt und Scharouns Philharmonie in Berlin und Härings Gedanken Landmarken unserer Kulturgeschichte.
Fühlen wir uns dieser Tradition verpflichtet, dann müssen wir uns den fortwährend neu sich aufbauenden Zwängen der Realität entgegenstellen, diese zurückweisen, Freiraum, Entwicklungsraum, Spielraum für alle und alles in Realität schaffen; und die Möglichkeit für jeden und für jedes, sich, seine Gestalt und seinen Platz in der Gesellschaft (und natürlich dann auch in der architektonischen Gestalt) finden zu können.
(Es ist fraglich, ob wir dieses Ziel erreichen werden.
Aber:
Dieser Zweifel befreit uns nicht von der Aufgabe, uns diesem Ziele nähern zu wollen. Würden wir dies nicht tun, so würden die immer wieder und immer neu sich aufbauenden Zwänge uns immer weiter abdrängen, vom Ziele entfernen.)
Hierfür sind wohl zuerst Aktionen vor Architektur erforderlich. Wir können dann nicht mehr ohne weiteres Bauaufgaben, die auf uns zukommen, hinnehmen, einfach "verlängern" und in Architektur umgießen. Ein großer Teil der Bauaufgaben muss im Zustand der Aufgabe korrigiert und transformiert werden.
Aber auch in Architektur schlägt sich ein solcher Ansatz nieder. Auch für Architektur müssen die aus den Konditionen der Zeit sich entwickelnden Vorstellungen, Ordnungen, Prioritäten etc. durchleuchtet, zurückgewiesen und transformiert werden, mit der o.a. Tendenzen. Freiheit und Würde Allen und Allem zuzugestehen und sich selbst auch dafür zu engagieren.
Diese Tendenz wird dann auch durch das fertige Werk scheinen. Es ergeben sich dann Lösungen, denen diese Tendenzen zu eigen sind, in denen auch die Teile des Ganzen frei sind für sich und für ihre Funktion im Ganzen stehen werden. Ein Idealbild unserer Gesellschaft.
Zusätzliche Harmonisierungsmaßnahmen, geometrischer, formaler oder sonstiger Art sind dann fehl am Platze. Solche Harmonisierungsmaßnahmen würden sogar das Wesentliche solcher Architektur verderben, indem sie Architektur um die ihr und ihren Teilen anhaftende Freiheit bringt.
Solche Architektur könnte dann mit einer Landschaft verglichen werden (tendenziell), in der ja auch jedes für sich und in Verbindung zum Anderen und zum Ganzen steht - so lange, bis übermächtige eingreifen. Ein Baum sollte ein Baum bleiben dürfen, eine Stütze eine Stütze, eine Rose eine Rose und ein Stuhl ein Stuhl.
usw.
Eine vielfältige Architektur, eine einheitliche Architektur. Die Vielfalt der Erscheinung hat ihre Einheit in der gemeinsamen Freiheit, Würde, Hoffnung und Toleranz - Tendenzen, die ja auch Ziele unseres Zusammenlebens sind.
Ja - es gibt eine Architektur der Demokratie und diese ist anders, funktioniert anders und sieht auch anders aus als die Architektur der Apparate des Staates, der Produktion und der Konzerne, anders als die Architektur der Griechen, Römer, Ägypter, anders als die Architektur der Gegenreformation und natürlich auch anders als die Architektur des Metabolismus, Brutalismus, Rationalismus, Kubismus
usw.
Während diese letzteren einen eigentlich doch recht nebensächlichen Aspekt des Ganzen in den Mittelpunkt der Bemühungen stellen, die Austauschbarkeit von Teilen z.B., die plastische Qualität, die geometrisch- formale Qualität, das Autarke der Architektur - was doch heißt: den Willen, Architektur vom Alltag und vom Menschen und von seinen Idealen zu lösen usw., wird eine demokratische Architektur sich demokratischer Prozeduren bedienen und den Menschen - genauer : die Rechte und die Würde des Menschen, seine Individualität – in den Mittelpunkt stellt:
eine solche Architektur ist anders.
Und eine solche Architektur sieht auch anders aus.
Eine solche Architektur wird fairer, offener, weniger rechthaberisch, toleranter, weniger auf dem Sockel, auf keinen Fall totalitär sein, sie wird differenzierter, weniger hart, weniger monumental sein. Sie wird menschlicher sein, natürlicher, wahrscheinlich hätte Hugo Häring gesagt: organischer.
Vom Prinzip her kann das nicht schwer sein.
In Realität dann doch; müssen wir uns doch entgegenstellen allen dem und allen denen, die gerade dies im Alltag verhindern, den Mächten der Tagespolitik, der Produktion, der Administration usw., all denen, die bei der Wahl der Mittel zum Erreichen ihrer Ziele nicht pingelig sind.
Aber ich meine schon, es lohnt sich, dafür zu arbeiten. Für was sonst möchten wir uns engagieren?